Aufhebung - Ein Gedicht von Erich Fried
Aufhebung
Wie kann ich mit dem Unglücklichsein umgehen, was könnte mein Leid aufheben und leichter machen? In seinem Gedicht „Aufhebung“ formulierte der Lyriker Erich Fried Wege zur Bewältigung seelischen Schmerzes, die sich wie die poetische Illustration einer Psychotherapie lesen:
Ein Gedicht von Erich Fried
Erich Fried, September 1986
Aufhebung
Sein Unglück
ausatmen können
tief ausatmen
so daß man wieder
einatmen kann
Und vielleicht auch sein Unglück
sagen können
in Worten
in wirklichen Worten
die zusammenhängen
und Sinn haben
und die man selbst noch
verstehen kann
und die vielleicht sogar
irgendwer sonst versteht
oder verstehen könnte
Und weinen können
Das wäre schon
fast wieder
Glück
„Ausatmen können“ spricht von inneren Blockaden, die am tiefen Ausatmen hindern können. In der Traumatherapie führe ich am Beginn der Stunde – auch mittels Atemübungen – einen Zustand innerer Ruhe herbei, den ich am Atmen hören kann.
In Erich Frieds Gedicht ist das Anfangsthema des tiefen Aus- und Einatmens zugleich ein Sinnbild für das darauf folgende Aussprechen und Verstandenwerden, für den Austausch von Worten als Weg, wie man dem Unglück entkommen kann.
Und so, wie das tiefe Atmen für den psychisch belasteten Menschen nicht selbstverständlich gelingt, ist auch das Sprechen über sein Unglück ein Weg, der über viele Klippen führt. Da genügen nicht einfach Worte, es braucht „wirkliche Worte“: Auch das psychotherapeutische Gespräch beginnt oft mit oberflächlichen, konventionellen Worten und führt mit der Zeit zu authentischen, aus tiefster Seele kommenden Worten.
Dass die ausgetauschten Worte immer enger zusammenhängen und immer mehr Sinn machen ist typisch für die therapeutische Entwicklung zum tieferen Verstehen. Man begegnet unterwegs dem Unbewussten, das man oft „selbst noch nicht verstehen kann“.
Psychotherapie wurde auch als „talking cure“, als Sprech-Kur beschrieben. Nach dem Atmen und dem Dialog spricht Frieds Gedicht schließlich das Weinen-Können an. Oft führt Verstehen zum Weinen – und wenn man weint, ist es wichtig, dass man sich verstanden weiß.
Das Gedicht beginnt mit einem Unglück, das einem fast den Atem nimmt, und durchschreitet eine Entwicklung zum immer besseren Gelingen eines verständnisvollen Austauschs mit den Menschen und mit der Welt. „Das wäre schon fast wieder Glück“.
Der Dichter Erich Fried wurde am 6. Mai 1921 in Wien geboren, lebte ab 1938 im Londoner Exil und starb 1988 in Baden-Baden. Er zählt zu den bekanntesten Schriftstellern im Nachkriegsdeutschland.
Lizenz: Erich Fried, Aufhebung aus: Beunruhigungen, Gedichte. (c) 1984, 1997 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin